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Ein Plädoyer für eine Auszeit


Ein Plädoyer für eine Auszeit


Ich mache es einmal im Jahr. Ganz egoistisch. Ich packe meine Chucks und meinen Wollponcho, einen Haufen Bücher und ein Notizbuch in den kleinen Reisetrolley und fliege irgendwo ans Meer. Ich lasse meine Familie für fast eine Woche daheim. Ich überlasse meinem Mann das Feld und die Wochenplanung. Ich ertrage Abschiedsschmerz und Fragen, ob meine Ehe Probleme hat, denn ja, das denken Leute, wenn man einfach so als Frau alleine weg reist. Dass man Probleme hat und sich Rosamunde-Pilcher-Heldinnen like in ein Abenteuer mit einem Spanier oder Witwer vor Ort stürzt. Dass man vielleicht nie wieder zurück kommt. Oder dass einem schlimme Dinge passieren, weil man, ja, eine Frau ist.


Dabei ist es gerade das Gegenteil, warum ich es regelmäßig mache, warum ich das ganze Jahr förmlich darauf hinlebe und schon Monate vorher die nächste passende Wohnung suche: Ich habe viel weniger Probleme, seitdem ich mich traue, mich einmal im Jahr höchst ausführlich mit mir zu beschäftigen.

Ja natürlich, auch mit meiner Ehe. Auch mit meinen Kindern. Meiner Berufung, meinem Beruf, meinen Beziehungen. Aber in erster Linie einmal hauptsächlich mit mir. Mit meinen Träumen. Meinen Ängsten. Den Punkten, die sich eben nicht so schnell erledigen. Mit den Dingen, die unter der Oberfläche schlummern können, mit denen ich super leben kann, aber kaum, bin ich alleine, kommen sie hoch und wollen in Ruhe angeschaut werden.


Begonnen hat es ehrlich gesagt doch ein bißchen mit Rosamunde Pilcher (und ja, das ist mir schon irgendwie peinlich, mich hier als Rosamunde Pilcher Leserin zu outen - aber ihre Bücher haben drei Dinge, weswegen ich sie gerne lese: wenn ich krank bin, man muss nicht viel denken, man wird an schöne Orte entführt und sie gehen immer gut aus… Fast die Dinge, die ich auch in meinen Auszeiten erlebe - ohne das nicht denken müssen, wohlgemerkt...).


Vor sechs Jahren ging es mir körperlich und seelisch einfach schlecht. Ich stand beruflich vor einem Wendepunkt. Unsere ganze Familie stand vor einer grossen Veränderung. Wir hatten gerade unter Zeitdruck ein Haus renoviert (und das Ganze für ein DIY-Buch dokumentiert) und ich war einer Erschöpfung nahe. Dann kam mein Mann völlig überraschend mit dem Vorschlag um die Ecke, ob ich nicht einmal alleine wegfahren wolle.


Nein, ich will ehrlich sein, er wollte mich schon eher wegschicken. Er machte sich Sorgen um mich. Ich weiß nicht mehr, was er genau vorschlug, aber ich glaube es war so etwas wie drei Tage im Kloster, worauf ich spontan antwortete, dass wenn schon, ich am allerliebsten nach Cornwall wollte (seht ihr, wie sich Rosamunde Pilcher hinein schleicht? Eben!). Und wenn ich schon nach so vielen Jahren mal wieder in England wäre, würde ich auch gerne mal wieder ein paar Plätze aus meiner Jugend besuchen.


Mein Mann schluckte, rechnete und meinte dann, ich solle fahren. Nach anfänglichem Streuben und Diskussionen a la ‘schaffst du das überhaupt mit den Kindern?’, plante ich eine zehntägige Rundreise mit 5 Stopps. Mächtig viel ging schief, vor allem am Anfang. Schon mal den Pass vom Zoll weggenommen bekommen, weil irgend ein osteuropäischer Identitätsdiebstahlsring deinen Namen benutzt? Schon mal mit dem Auto ins Zentrum in London gefahren? Schon mal vor einem Mietwagenagenten geheult und den Inhalt deines ganzen Koffers verteilt, inkl. jaaa. deiner Unterwäsche? Yep, ich schon. Ist es schlimm? Ultimativ schlimm. Ich habe einen Haufen richtig guter Geschichten aus diesem Urlaub mitgenommen, die immer wieder tolles Gesprächsthema bieten. Aber, was der größere Gewinn war und weswegen ich zur Wiederholungstäterin wurde, war ein anderer.


Eigentlich mehrere.


Man findet etwas über sich heraus

Als Mutter ist man es gewohnt, auf alle um einen herum zu reagieren. Man jongliert mit den verschiedenen Familienmitgliedern. Man agiert viel weniger, als man reagiert. Im Urlaub kümmert man sich darum, dass alle sich wohlfühlen, es jedem gut geht. Man plant Unternehmungen entsprechend, dass für jeden etwas dabei ist. Man muss oft lange Vorbereitungen treffen, wenn man am Morgen aufbricht. Man muss teilweise, gerade bei jüngeren Kindern um Schlafenszeiten herum planen. Man muss häufig auch mal Dinge machen, die man nicht selber toll findet. Unser erster Urlaub mit unserer Einjährigen bestand darin, weil sie Sand so richtig doof fand, auf Spielplätzen und in in Zoos rumzuhängen, statt am Meer ein Buch zu lesen oder stundenlang aufs Wasser zu schauen. Deswegen ist es immer wieder faszinierend, wenn ich in meiner Auszeit bin, dass ich alle Entscheidungen treffen darf. Das ist toll und lehrt mich Dinge über mich, was ich mag, wie ich ticke. Genau so ist es dann aber auch so, dass ich mit meinen Entscheidungen leben muss. Wenn ich bei fünf Tankstellen vorbeifahre, weil ich denke, es kommt noch eine bessere, muss ich damit leben, zurückzufahren. Oder wenn ich mir eine zu lange Tour raussuche, muss ich beim nächsten Mal besser planen. Oder wenn ich zu lange damit warte, mir was zu essen zu besorgen, weil ich mich nicht entscheiden kann, dann habe ich eben Hunger (und das ist nicht gut, wenn ich Hunger habe!). Das fordert mich heraus. Aber es ist auch schön, zu merken, dass man ständig so viel entscheidet. Und einfach mal zu schauen, was machen diese Entscheidungen nur allein mit mir.


Das Selbstbewusstsein wird gestärkt

Jedes einzelne Mal sind unvorhergesehene Dinge passiert. Ein paar habe ich oben ja schon angedeutet. Es gab Wohnungen, wo ich nachts erbärmlich gefroren habe. Es gab Wohnungen, in denen ich mich unsicher gefühlt habe. Es gab Situationen, in denen ich Orte nicht gefunden habe, in denen ich nur im Auto saß auf der Flucht vor schlechtem Wetter. Situationen, als ich in einer Raucherwohung war und mir dann noch eine zweite Wohnung nehmen musste, weil ich davon Kopfweh bekam. Situationen, in denen ich dachte, Shopping würde mir gut tun und ich die absolute Persönlichkeitskrise bekam und mich dick und hässlich fühlte, weil mir die Kleider in Spanien in meiner Größe nicht passen wollte - unterschiedliche schwierige Dinge. Mehrere Male gab es Probleme mit den Mietwägen (einmal war ich gesperrt, ohne dort je zuvor ein Auto gemietet zu haben, einmal war meine Kaution nicht hoch genug, einmal fand ich den Mietwagenanbieter nicht…), deswegen gebe ich zu, so richtig entspannt bin ich immer erst, wenn ich meinen Wagen habe. Aaaaaber… und das ist ein großes Aber… alle Probleme können gelöst werden. Und zwar von - trommelwirbel - mir. (Sonst ist ja keiner da, genau!) Und ich gebe es zu, ich bin so jemand, der seine Probleme oft und gerne von anderen lösen lässt. Und es gibt mir echt Selbstbewusstsein, wenn ich erlebe, dass niemand sonst meine Probleme löst und dass ich es dann, oh Überraschung, selber eigentlich ganz gut schaffe!


Input

Ein ganz grosses Plus für diese Reisen sind Input. Schöne Orte, neue Menschen, mal ganz viel Natur, auch mal eine neue Stadt, manchmal ganz viel Rumreisen, manchmal tagelang nur am Strand auftanken - egal, was ich mache und wonach es mir ist, es gibt mir so viel Input! Ich sehe, fühle, spüre Dinge und das ist genial.


Zeit zum Denken

Ich habe es bisher immer so gemacht, dass ich mir recht wenig für die Zeit vorgenommen habe, einfach mal losgezogen bin, teilweise nur mit Büchern, die andere Menschen mir gegeben hatten. Teilweise mit ganz viel Input, teilweise fast ohne. Teilweise mit viel Kontakt zu meinen Freundinnen, ja fast einer Gruppe, die meine Adventures teilten, teilweise ohne großen Kontakt. Teilweise schrieb ich seitenweise in mein Notizbuch, teilweise war ich einfach in Gottes Gegenwart. Aber jedes Mal kamen Dinge hoch, die wichtig waren. Vergangenheitsbewältigung, Beziehungen, in denen es harzte und die Klärung brauchten, Wahrheiten, die Gott mir schon so lange über mich zusprechen wollte, aber im Alltag kein Fenster fand. Immer wieder ein neuer Schatz, viele neue Gedanken, viele neue Erkenntnisse. Dinge, die alles änderten. Und nur, weil man ein paar Tage ungestört Zeit bestanden, dass Gedanken sich entwickeln konnten und formuliert wurden.



Die Seele tankt auf

Noch so ein kitschiger Punkt, ich weiß. Aber ich sag euch eines: Wenn euch der Wind um die Nase weht und ihr an den schönsten Orten steht ohne jemand anderen, der ablenkt, dann passiert etwas mit einem: Man atmet tiefer. Man staunt ausführlicher. Man erlebt mit allen Sinnen. Man saugt ein, man streckt sich aus, man versteht. Man genießt und freut sich, man feiert das Leben. Man wird gestärkt und ausgestattet für den immer zu vollen Alltag.


Gott war mit mir

Wenn ich sage, dass ich alleine weggehe, ist das eigentlich nicht wahr! Denn jedes Mal empfinde ich es so, dass Jesus, Vater und Heiliger Geist auf mich warten und mir Gesellschaft leisten. Sie sprechen mir Wahrheiten zu, sie korrigieren Gedanken, sie umlieben mich und beschenken mich, sie schenken mir Ruhe und Frieden. Oh, es klingt so kitschig, aber was ich über die Dreieinigkeit und jeden einzelnen Part von Gott gelernt habe, das ändert so viel in meinem Denken, Fühlen, Sein. Unvergessen ist eine Pizza, die wir zu viert (die drei und ich) in einem Restaurant gegessen habe, und wo ein Gespräch entstand, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass sie nur darauf warten, mich mal wieder ausführlich in die Hände zu kriegen, um mich so richtig zu beschenken.


Jetzt habe ich eine Lanze gebrochen, für diese Auszeiten, aber als Leserin fragst du dich vielleicht, wie soll ich das hinbekommen.

Ich kann dir folgende Ratschläge geben:


  • An den Nutzen denken, nicht an die Probleme, die es mit sich bringt. Beziehungen brauchen Zeit. Und sollte die wichtigste Beziehung in deinem Leben, die zu dir selbst, nicht ein bißchen Zeit wert sein?

  • Geldtechnisch rechne ich diese Reisen in unser Urlaubsbudget ein. Ganz einfach weil sie mir so wichtig sind, wie unser Familienurlaub. Denn schlussendlich haben alle in der Familie etwas davon, wenn es mir mit mir selbst gut geht und ich im Saft stehe. Ansonsten kann man sich auch einfach zu Gelegenheiten, an denen es sonst Geschenke gibt, einfach Geld für eine Auszeit wünschen. Leute sind da oft so großzügig! Vielleicht hat auch jemand den man kennt, eine Hütte, die man außerhalb der Ferien für wenig Geld bekommen kann.

  • Fang vielleicht klein an, mit einem Wochenende und schau mal, was das mit dir macht.

  • Such einen Zeitpunkt, wo es einfacher ist, den Alltag zu übergeben. Mein Mann und meine Kinder sind normalerweise auf einer Kinderwoche, so dass nicht zu viel Organisationsaufwand für ihn anfällt oder er extra frei nehmen musst. Gut denkbar ist auch, die Kids mal abzugeben an die Großeltern oder mit einer Freundin einen Tausch auszumachen: Ich passe ein Wochenende auf deine Kids auf und du gehst weg, und anders rum.

  • Wenig mitnehmen. Was zu lesen, was zu schreiben, Kleider für jedes Wetter, eine Wärmflasche für jenen kalten Nächte:D

  • Geloben, nicht Zeit zu verschwenden mit Fernsehschauen oder sonstigen Banalitäten, sondern, wenn möglich, am besten den Stecker ziehen. Analog gehen. Das Handy nur nutzen, zum Fotos machen oder Eindrücke mit Menschen zu teilen.

  • Wichtige Erkenntnisse, Gedanken und Wahrheiten festhalten. Ich habe ein Auszeit-Buch und es ist immer wieder so schön, zurück zu blättern und so Jahre an Gedanken auf einmal vergleichen zu können.

  • Und dann regelmäßig daran festhalten. Die Zeit ausbauen. Auf sie hin leben.


Ich bin gespannt, ob ich jemandem Lust gemacht habe, diesen Zeiten eine Chance zu geben. Wenn ja, lasst es mich wissen und berichtet mir! Das würde mich so interessieren.


Ich schreibe diese Zeilen in meiner diesjährigen Auszeit in einem Wintergarten mit Blick aufs Meer in Portugal. Ich habe gestern einen Regensturm erlebt, (laut meiner Vermieterin den ersten Regen seit April, na bravo…) das Haus war kalt und klamm, doch heute scheint die Sonne. Ich bin heute morgen stundenlang am Meer entlangspaziert, kaum ein Mensch war unterwegs. Ich habe schon fünf Ideen für Artikel gehabt und hiermit den ersten geschrieben. Ich habe mir den Coronafrust von der Seele geweint. Ich habe Spagghetti Aglio Oglio gegessen und Podcast gehört. Ich habe Jesus gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe mich mit einem heißen Bad aufgewärmt. Ich habe Steine gesammelt und dabei Dinge verstanden. Ich habe gejauchzt, gelacht, genossen. Und ich bin erst knapp einen Tag hier.







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